Unser Anfang in Amalienruh
Die Treuhand gab mehrfach im Jahr ein Heft voller Immobilien heraus, die versteigert werden sollten. Die Ansichten der Gebäude in Amalienruh waren abschreckend aber die Landfläche unglaubwürdig groß: 43 Hektar und das bei einem geforderten Anfangsgebot von nur 9000 Euro? Ein Druckfehler oder war da eine Atommülldeponie in der Nähe? Ein Anruf beim Auktionator klärte das auf. Er meinte es stände alles unter Denkmalsschutz und der Zustand der Gebäude wäre so katastrophal dass die Interessenten wieder rückwärts vom Hof gehen würden. „Sie brauchen zehn Millionen in bar um das wieder in den Griff zu bekommen!“ Wir wollten es uns aber zumindest ansehen, immerhin hatte ich schon zweimal erfolgreich marode Höfe saniert.
Erstmal fanden wir es gar nicht sondern verfuhren uns irgendwo im Wald. Das war schon mal ein gutes Zeichen. Der erfolgreichste Makler Schwedens hatte mir mal gesagt: „Bei einer Immobilie kommt es auf drei Dinge an: 1. die Lage, 2. die Lage und 3. die Lage.“ Amalienruh liegt abseits öffentlicher Verkehrswege, in völliger Alleinlage, mitten im Wald.
Mich beeindruckten erst mal die vielen Gebäude und ich sah sofort das Potential dieses Hofes. Eine Untersuchung der furchtbar maroden Häuser ergab: kein Hausschwamm und kein akuter Hausbockbefall. Der Großteil der Dächer zwar mit vielen Schäden aber noch halbwegs dicht. Dann verbrachte ich zwei Tage damit, die Umgebung im Umkreis von drei Kilometern zu untersuchen. Schöne Buchenwälder, Wiesen und Weiden voller seltenster Pflanzen. Riesige Waldwiesen ohne jedes Zivilisationsanzeichen, nicht mal eine Stromleitung! Überall Flechten als Zeichen besonders guter Luftqualität. Nachts schliefen wir im Auto, es war absolut still bis auf das eindrucksvollste Eulenkonzert das ich je gehört hatte. Am nächsten Morgen gab es ein genau so überwältigendes Vogelkonzert im Schlosspark. Das war mein erster Eindruck. Amalienruh schien einfach aus der Zeit gefallen. Später las ich dann in einem alten Buch, dass das vor 200 Jahren schon so war, also wohl schon immer.
Von entscheidender Bedeutung für einen Hof ist neben dem Zustand der umgebenden Wälder die Wasserversorgung und da ist Amalienruh einzigartig: es gibt fünf eigene Quellen! Vor Überschwemmungen braucht man auch keine Angst zu haben. Der Hof liegt 400 Meter hoch im oberen Teil eines Seitentales. Die umliegenden Berge beschützen den Hof vor Unwettern.
Amalienruh liegt auf Muschelkalk-Verwitterungsböden mit bis zu 55 Bodenpunkten, also auch das sprach dafür. Trotz der Öffnung des Tales nach Nordwesten deuteten Reste alter Obstplantagen auf ein gutes Klima hin. Mehr als zweihundert alte Obstbäume sind ein wichtiges Kapital.
Den letzten Anstoß zur Kaufentscheidung gab der Zauber des Ortes. Der bestand wohl schon immer und war auch nicht durch hässliche Zweckbauten zerstört worden. Schon die Herzogin Elisabeth-Sophie von Sachsen-Meiningen hatte deswegen den „Memelsfelder Hof“ 1718 gekauft und das Lustschloss bauen lassen. Auch die zusätzlichen Bauten, vor dem ersten Weltkrieg durch den bedeutenden Hofbaumeister Karl Behlert haben das Gesamtbild eher noch verschönert. Dieser Zauber des Hofes bewog die Herzogin Amalie hier ihren Witwensitz einzurichten und um 1900 die Freifrau Elisabeth von Pavel-Rammingen die weltweit erste Landfrauenschule der Welt in Amalienruh zu gründen.
Also ein hohes Kapital von Möglichkeiten hinter einem Berg von Schwierigkeiten. Wegen des niedrigen Anfangsgebotes gab es massenhaft Interessenten aber keinen wirklich ernsthaften, denn wenn man 10 Millionen investieren muss um einen Hof nutzen zu können, kauft man sich natürlich einen fertig renovierten, wenn der für weniger als die Hälfte zu haben ist.
Bei mir war das ein Sonderfall. Ich hatte große Erfahrung mit der Renovierung von maroden Höfen und mir im Laufe von dreißig Jahren mehr als 1000 Gutshöfe angesehen. Ich wusste worauf ich mich da einlasse und das die Renovierung mindestens zwanzig Jahre dauern würde. Außerdem war mir klar, dass das Mindestgebot von 9000 € völlig unrealistisch war, wenn allein der Wert der landwirtschaftlichen Nutzflächen 150 000 € betrug. Mir war auch klar, dass man so etwas nicht alleine machen kann. In neuer Zeit kaufen immer wieder wohlhabende Einzelpersonen ein Schloss oder einen Gutshof, meist in vorgeschrittenem Alter, weil vorher das Geld auch nicht da ist. Das endet mittelfristig oft in einer Katastrophe. Ein maroder Gutshof ist wie ein schwarzes Loch für Geld, es ist wie einen Tiger zu reiten: solange man drauf sitzt geht es, aber wenn man herunter fällt frisst er einen. Deswegen gibt es überall in Europa leerstehende Höfe als „lost places“ und etwa 70% aller Gutshöfe auf dem Immobilienmarkt sind die Folge von Ehescheidungen. Gutshöfe waren nie eine Sache von Einzelpersonen, sie können auf Dauer nur von Großfamilien mit großem Freundeskreis erhalten werden. Dann allerdings können sie Jahrhunderte überleben. Als dann ein alter Freund unserer Familie auftauchte, der nach einer neuen Aufgabe suchte, waren wir fest entschlossen zu kaufen und auch der Kaufpreis entsprach genau meinen Erwartungen.
Woraus bestand nun also der Berg der Schwierigkeiten?
Es gab einen Abrissbeschluss (wegen der Grenznähe) aus dem Jahr 1985, der wegen der Wende aber nicht mehr vollzogen wurde. Deswegen wurde schon lange nichts mehr erhalten.
Weil niemand mehr daran glaubte, dass Amalienruh jemals wieder aufgebaut würde, holten sich dort viele Leute das weg, was sie gebrauchen konnten. Als ich von der Auktion in Berlin auf den Hof kam, war man an drei Stellen gleichzeitig am klauen, sogar mit schwerem Gerät (Traktor mit Frontlader und Wagen). Das war erstmal zu unterbinden und ärgerte viele.
Die landwirtschaftlichen Nutzflächen waren verwildert und teilweise vollkommen mit Bäumen und Büschen zugewachsen.
Es mussten ca. 20 Kilometer Zäune neu gebaut werden.
Von den acht Häusern waren drei akut einsturzgefährdet und eines ist dann auch eingestürzt.
Bewohnbar war keines der Häuser.
Es gab keine intakte Wasserleitung.
Es gab keinerlei Heizmöglichkeit, nicht einen einzigen angeschlossenen Ofen.
Es gab weder eine intakte Strom- noch Telefonleitung zum Hof.
Drei Viertel aller Fensterscheiben waren eingeschlagen, was die Erneuerung von mehr als 2000 einzelnen Scheiben bedeutete. Viele Fenster fehlten völlig oder waren schwer beschädigt.
Allein im Schloss waren 64 Türen entweder kaputt oder nicht mehr vorhanden.
21 Schornsteinköpfe waren zu erneuern und die unteren Teile zu reparieren.
Es regnete in jedem Gebäude des Hofes an mehreren Stellen durch und es gab fünf Deckendurchbrüche, teilweise durch drei Geschosse bis in den Keller.
Das Gartenland war mehr als 25 Jahre vollständig verwildert.
Der Park war wegen umgestürzter Bäume nur noch kriechend durchquerbar und mit vier Meter hohem Buschwerk zugewachsen. Außerdem hatte er als Mülldeponie gedient.
In den Ställen waren die meisten Eisengitter von Schrotthändlern gestohlen worden.
Im Schloss waren alle Bleiglasfenster, alle antiken Fensterverschlüsse, die antiken Küchenfliesen und das schmiedeeiserne, hundert Jahre alte Balkongitter gestohlen worden.
Die Treppengeländer waren fast überall gestohlen und im 4-Familienhaus auch die Treppenstufen. Das Gleiche galt für Gartentreppen und das Kalkstein-Außengeländer des Villa-Einganges.
Es waren jährlich mehrere Großcontainer mit Müll zu befüllen und abzutransportieren.
Es waren sieben Gebäudereste abzubrechen und zu beseitigen.
Es mussten alle Wasserleitungen neu verlegt werden (ca. zwei Kilometer).
Es mussten 500m² Asphalt aus DDR-Zeiten entfernt und altes Kalksteinpflaster repariert werden.
Die Elektrik aller 16 Gebäude musste komplett erneuert werden.
Zweihundert Meter der dreihundert Jahre alten, riesigen Park- und Gartenmauern waren zu sichern und zu reparieren, sowie auch alle 10 großen Torpfosten. Alle Tore fehlten.
Alle Werkstätten waren komplett neu mit Maschinen und Werkzeugen auszustatten.
Alle Gebäude des Hofes mussten renoviert werden. Aller Putz war zu erneuern.
Forellenteichanlage, Karpfenteich und Kläranlage mussten entschlammt und repariert werden.
Ca. 800 Obstbäume waren frei zu stellen, zu schneiden oder neu zu pflanzen.
Das Sägewerk musste gekauft, repariert und komplett neu ausgestattet werden.
Fünf Müllkippen mussten saniert werden.
Der Hofbackofen war neu zu bauen und die Schmiede nach Reparatur vollständig neu auszustatten.
Alle Rosenstöcke (150 Stück) waren neu zu pflanzen, alle Blumenbeete neu anzulegen.
Die Zufahrtsstraßen mussten freigeschnitten, repariert und die Straßengräben ausgebaggert werden.
Acht große Rasenflächen mussten von Müll und Aufwuchs befreit, planiert und neu angelegt werden.
Alle Hof- und Parkwege waren zu finden, frei zu legen und neu anzulegen.
Der 250 Jahre alte Pavillon musste bis auf die Steine der Grundmauern komplett neu erbaut werden, Tennis- und Reitplatz, sowie mehrere Gewässer neu angelegt werden.
Es gab nirgends mehr brauchbare Möbel, alles musste neu angeschafft werden und zwar so, dass es in die denkmalgeschützten Häuser passte, also alte Möbel die oft noch zu reparieren waren.
Auf welche Weise wir all diese Schwierigkeiten bewältigt haben, ist ein Kapitel für sich und soll an anderer Stelle beschrieben werden.